Versuchen wir mal, die Punkte zu strukturieren, die von der Reform angegangen wurden, und meine Kritik daran.
1. Es gibt Schritte weg von internationalen Gebräuchlichkeiten. Es ist mehrfach eine Abkehr von längst im Deutschen gebräuchlichen Wörtern hin zu unnötigen Änderungen zu beobachten: Tip -- Tipp.
Stop -- aber Stoppschild.
2. Nachdem versprochen war, dass es sich nur um Schreibungsänderungen, nicht um Eingriffen in die Sprache handeln würde, konnte dieser Vorsatz besonders in den Neunzigern nicht eingehalten werden. Vor allem mit erleichterter Getrenntschreibung wurde ein falscher Parameter gesetzt, der den Menschen suggerierte, jegliche Verbkombinationen dürften zerschlagen werden.
Die Bedeutung einer Zusammenschreibung wurde bisher mit dem Hilfsmittel der Betonung gefunden. Inzwischen ist aber durch eine Betonung, die der Schreibung folgt, eine Orientierung am Klang nicht mehr verlässlich. Hierbei ist anzumerken, dass ständiges Nachschlagen im Duden unrealistisch ist. Menschen, die im Alltag schreiben, brauchen Regeln, die aus dem Kopf angewendet werden können.
3. Das ß ist in seiner Entwicklung vom Ursprung getrennt worden, sein Stellenwert wurde grundlegend verändert (Sprachänderung, siehe oben). Dieses Zeichen, das im Antiqua-Druck aus einer Doppel-S-Ligatur entstanden ist, hatte ursprünglich eine ästhetische Funktion und war auch Signal für das Wortende. Parallel dazu entwickelte sich in den Frakturschriften ein Schluß-S., das vor allem bei langen Wörtern eine optische Abgrenzung anbot. Das ist bei der steilen, engen Fraktur, die sich aus der Schwabacher entwickelte, und bei der deutschen Tendenz zu Wortanhäufungen hilfreich. Es war ursprünglich kein Lautanzeige-Zeichen! Vermutlich waren es Sprechgewohnheiten, auch mundartlich verschieden, die anzeigten, welche Länge ein Vokal bekam.
Die Reform hat einen Paradigmenwechsel mit einer Lawine von dramatischen Änderungen ausgelöst. Das SZ, das scharfe S, hat einen neuen Job bekommen, es soll auf einmal zum Lautanzeiger gemacht werden.
Das hat gravierende Folgen für die Sprache und für die Typografie, die eigentlich ebenfalls nicht von der Reform hätte berührt werden dürfen. Außerdem hat es das deutsche Deutsch weiter isoliert von den deutschsprachigen Nachbarn in der Schweiz und von den anderen Sprachen weltweit. Denn:
a) Die Anzeige von langen Vokalen durch das folgende ß und von kurzen Vokalen durch das Doppel-S hat so niemals existiert. Wir haben Kuß, Schluß und Nuß mit kurzem U gesprochen, Gruß und Fuß mit langem. Das heißt: Das ß hat nur und nur eine Funktion als Wortend-Anzeiger gehabt, niemals eine lautbildende.
b) Das führte zu der Konsequenz, dass ein Zeichen für einen langen Laut in einer Versalreihe fehlte. Denn das ß ist und bleibt eine Kleinbuchstaben-Ligatur. Während man in der Schweiz entschlossen auf das ß verzichtet hat und alle scharfen S-Laute mit Doppel-S schreibt, hat man sich in Deutschland von den arbeitsfreudigen typografischen Anstalten davon überzeugen lassen, einen Großbuchstaben SZ zu schaffen, was einen grotesken Fremdkörper in die harmonische und seit über 2000 Jahren bewährte Römische Capitalis hineinpresst. Die Disharmonie, in der diese Formsysteme stehen, könnte nicht größer sein.
Warum war es denn früher möglich, STRASSBURG, GROSS-GERAU und FUSSPFLEGE mühelos zu verstehen? Weil wir, ebenso wie die Schweizer, daran gewöhnt waren, dass ein Doppel-S vor langen und vor kurzen Vokalen stehen kann. Und für die Frage, ob in der gemischten Schreibung das ß oder ss stehen sollte, gab es auch Regeln, die jeder kannte und die auch von Volksschülern meiner Generation richtig angewandt wurden.
c) Keine andere Sprache als das Deutsche verwendet ein "großes ß". Es ist für jeden ausländischen Leser unverständlich und erklärungsbedürftig, sieht zudem fatal ähnlich aus wie ein großes B und ist mit Sicherheit Anlass für zahllose Missverständnisse. Es sorgt für WEIBE WEIHNACHT, GROBE PARTY, ORT DER MUBE, und auf was für weitere Missdeutungen wir uns noch freuen können. Ja, dergleichen habe ich schon gelesen. Die Schaffung und Digitalisierung eines neuen Zeichens für alle Schriftsätze ist ein lukratives Geschäft für die Schriftanstalten. Die Reaktion auf Kritik ist entsprechend gallig.
4. Wo ist die Reform gut?
In EINEM Fall! Man schreibt jetzt Albtraum und nicht mehr Alptraum. Denn diese Träume, auch wenn sie schwer auf uns lasten, sind nicht vom europäischen Zentralgebirge, sondern von den Alben, Elben oder Elfen abgeleitet.
5. Wo ist die Reform unhistorisch?
Die Reform leitet für mein Gefühl einige Schreibungen nicht richtig ab. Beispiel: "rauh" oder "rau". Wenn man es mit "rough" und mit "Rauchware" in Verbindung bringen kann, dann muss man das "h" ein wenig hören können. "Rauhe Stürme" werde ich weiterhin genau so schreiben.