Warum kümmerst du dich um sowas?

Es fällt mir einfach schwer, zu manchem die Klappe zu halten. Von sprachlichen Schnitzern bis hin zu politischen Debatten. Also sammle ich, was mir so auffällt -- und eine Bemerkung verdient...

Freitag, 19. Dezember 2014

Was bedeutet "Pliggern"?

Beiträge zu versunkenen Kulturen

Als ich ein Kind war, hörte ich öfter kleine Wortgefechte zwischen meinen Eltern und ihren Gästen, die Deutschbalten waren. Deutschbalten, was ist das? Das waren eine inzwischen fast verschwundene Minderheit von deutschstämmigen Bewohnern der Länder Estland und Lettland, und auch die deutschen Litauer zählte man dazu. Die Balten waren Nachfahren von Ordensrittern oder auch den ihnen nachgereisten Handwerkern, von schwedischen Lehensleuten der russischen Krone und von Händlern, die sich im Bereich der Hanse auch in Riga und Reval ansiedelten. Sie bildeten eine eigene Kultur, in der auch das Pliggern zu den Gesellschaftspielen gehörte. Es besteht darin, dass man einen der Anwesenden durch provozierende, aber nicht beleidigende Bemerkungen aus der Reserve zu locken versucht. Der Herausgeforderte wird versuchen, eine möglichst elegante und treffende Antwort darauf zu geben, die aber frei sein sollte von Beleidigung, wie auch als Minuspunkt zählte, wenn man sich anmerken ließ, beleidigt zu sein. Ebenso war es ein Regelverstoß, wenn man unter die Gürtellinie zielte.
Besonders schlagfertige und durch gebildete und elegante Antworten auffallende Teilnehmer dieses Spiels konnten großer Anerkennung sicher sein.

Mittwoch, 27. August 2014

Erinnerungen einer alten Autistin III

Blick auf die Innenstadt von Hamburg in den 50er Jahren

Die Neustadt Hamburgs war in den 50er Jahren ein weniger hart vom Bombenkrieg getroffenes Stadtviertel als die Gegenden Hammberbrook, Borgfelde oder Barmbek, wo unter einem Trümmerfeld nicht einmal der ursprüngliche Straßenverlauf sichtbar gewesen war. Die Neustadt war aus Armut verfallen, sie war ein klassisches Wohnviertel der proletarischen Kriegerwitwen und jüngerer unehelichen Mütter mit ihren Kindern. Dennoch war es kein so dünn bewohntes Cityviertel wie heute, sondern konnte immerhin 44 Mädchen in die erste Klasse der Schule am Bäckerbreitergang schicken. Unsere Lehrerin war -- in unseren Augen -- steinalt, unverheiratet und hieß Fräulein Behrens. Sie war gütig, wir waren noch ziemlich brav. Ich saß etwas gelangweilt bei der Aufführung, die die ein Jahr älteren Kinder für die Neuankömmlinge veranstalteten, ich kann mich an nichts davon erinnern als an Kostüme aus buntem Krepp, es kann mich nicht besonders beeindruckt haben. Ich saß neben einem anderen Mädchen, mit dem ich Kontakt aufzunehmen wünschte, und teilte ihr mit, ich könnte mir schon Zöpfe machen. Ich betrachtete das als reales Gesprächsangebot und verstand nicht, warum sie sich wortlos abwandte; mir kam es vor, ich sei hier unter Gemüse geraten.
Denn so sah mein Tagesablauf bis dahin aus: Wenn meine Eltern noch schliefen, beschäftigte ich mich im Pyjama mit meinen Büchern oder Zeichensachen, bis meine Beine kalt wurden, und irgendwann wurden die Eltern dann wach, und es gab Frühstück. Der Papa ging dann ins Büro, das eine Etage tiefer lag. Meistens konnte ich ohne Unterbrechungen meinen Beschäftigungen mit dem Malkasten, mit Schere und Klebstoff oder meinen Bilderbüchern nachgehen. Eines davon war das Wilhelm-Busch-Album, aus dem ich Fraktur zu lesen lernte, dann hatte ich den dreifingerdicken Packen Impressionisten-Karten, dann war da ein Buch über das Leben Goethes mit vielen Bildern seiner Zeitgenossen und Schauplätze, das ich oft anschaute; außerdem das "Rettelbusch Stilhandbuch", Ausgabe 1952, voll mit Zeichnungen, die antike Möbel bis ins Biedermeier enthielt. Es wog mehrere Kilo und bot Unterhaltung für Stunden.

Die Mama rauchte und legte eine Patience nach der anderen auf der Schreibplatte ihres Sekretärs nah dem Fenster, das auf die klassizistischen Fassaden der Esplanade schaute.
Die Esplanade kurz nach ihrer Neubebauung 1830
Die Esplanade heute. Unsere Wohnung lag in dem
am weitesten links gelegenen hellen Gebäude
im 2. Stock.
Die Esplanade war in der napoleonischen Zeit freies Schussfeld nach Norden gewesen, zu welchem Zweck man die Bebauung niedergelegt hatte, die hier die Stadtmauer und das Dammtor gesäumt hatte. Nach dem Abzug der napoleonischen Truppen ist hier 1830 eine Prachtstraße mit nahezu gleichen klassizistischen weißen Häusern mit französisch anmutenden hohen Fenstern und relativ niedrigen Fensterbrettern fertiggestellt worden.
Heute ist nicht mehr viel zu sehen von dem überaus eleganten Charakter, den die Esplanade bis zum Bombenkrieg besessen hat. Eine Allee führte mittig von der Alsterecke bis zu den Parkanlagen, die durch die Entmilitarisierung der einstigen Valckenburgschen Wehrbauten entstanden waren. Dort befindet sich der Stephansplatz mit dem ehemaligen Hauptpostamt. Unsere Wohnung befand sich etwa in der Mitte der Südseite der Esplanade und schaute auf eine weitere Reihe von Fassaden aus der Bauzeit der Straße. Dies war eine der wenigen Straßen, die vom Bombenkrieg weitgehend verschont blieben, und sie hätte wie die Pallemaille ein Schmuckstück des Klassizismus bleiben können, wenn nicht der Kommerz seine Hand nach diesen alsternahen Grundstücken ausgestreckt hätte und British and American Tobacco sich auf einem Grundstück einen Turm erbaut hätte, für den das Wohnhaus von Heinrich Heines Tante fallen musste.
Für meine Mutter war der Wohnort ein wahrgewordener Traum, das Biedermeier die Epoche ihrer Sehnsucht.  Es war ein Haus mit hohen Räumen und drei Handbreit messenden Dielenbohlen mit kupferfarbenem Kern und goldenem Splint: Pitchpine, der schönste Fußboden, den ich je gesehen habe. Nach vorn lag ein Wohnzimmer, dessen hohe Fenster die Mama mit weissen Musselingardinen mit kleinen Pompons dekoriert hatte.
Die Möbel waren billig gekaufte, aber echte Biedermeier-Furniermöbel aus der Bauzeit des Hauses. Sie besuchte die Auktionshäuser Schlüter und andere in der Nähe und raffte zusammen, was der Bombenkrieg übriggelassen hatte. Damals ahnten wir nicht, dass solche Schätze oft den Vertriebenen, Verschleppten und Ermordeten entrissen worden waren. Wir hätten weit weniger ruhigen Gewissens damit leben können, wenn wir es gewusst hätten.
Der Blick zur Esplanade heute, von einem Rest
der Valckenburgschen Verteidigungsanlage aus
gesehen

Da meine Mutter den Stil der 50er von Herzen verachtete und die Nierentischchen und Cocktailsessel als "Schmulchen Schievelbeiner" bezeichnete, wie der antisemitische Spottname bei Wilhelm Busch lautet, rekonstruierte sie eine heile Welt, die ähnlich der Einrichtung in der alten Heimat war und eine Zeitkapsel außerhalb der laufenden Realität darstellte. Hier sprach man ein baltisches Deutsch, das von eigenen Ausdrücken wimmelte, vermischt mit estnischen und russischen Versatzstücken, ähnlich wie die Deutschtürken heute, die gerade immer die Sprache verwenden, die das besser ausdrückt, was sie sagen wollen.
Hier sitze ich an den Landungsbrücken
auf einem Poller.
Mein Vater hatte viel Zeit für mich, vielleicht, weil der Arbeitsplatz im selben Haus ihm die Arbeitswege verkürzte. Er machte Spaziergänge mit mir, auf denen wir uns sehr vernünftig unterhielten oder endlose Wortspiele spielten.  Meistens besuchten wir den Botanischen Garten, der damals Teil der Wallanlage war.

Meine Mutter funktionierte. So überspielte sie ihr Trauma. Sie war eine gute Hausfrau, die oft Gäste bewirtete und sich oft bei den Vorbereitungen verletzte, weil sie so unter Stress kam, dass ihr leicht Unfälle passierten. Wir hatten auch öfter Logiergäste, dann war der Onkel meiner Großmutter bei uns, Herbert, der mit seiner frommen Edith in einer winzigen Kate in Nordschleswig wohnte. Merkwürdigerweise kam er einige Male ohne sie, worüber ich nicht nachdachte; vielleicht entfloh er ihr regelmäßig. Früher, so hieß es, sei er  öfter zum "Fischen und Jagen" nach Schweden gefahren, über die Beute gab es eine einhellige und nicht jugendfreie Meinung. Seine Abenteuer aus jungen Jahren wurden in der Familie als geheime Verschlussakte gehandelt, was sehr schade ist, denn das hätte einiges Interessante zu diesem Dossier beigesteuert.
Da aber alle Beteiligten inzwischen in neuen Inkarnationen über den Planeten oder einen anderen wandern, muss ich mich nicht mehr zurückhalten.

Ich ahnte von alledem nichts; ich denke mal, dass ich damals von den Realitäten des Lebens auch selber nichts wissen wollte. Die kleine Tochter unseres Hausmeisters, der bald darauf wegen irgendwelcher Unzuverlässigkeiten entlassen und durch den grundsoliden Nachfolger H. ersetzt wurde, wollte mich einmal ins Vertrauen ziehen und lockte mich auf den Dachboden, wohin ich meinen Roller unbedingt mitnehmen wollte. Ich muss wohl etwa 6 Jahre alt gewesen sein. So saßen wir auf den Dielen, und sie fing an, mir etwas zu erzählen, was ich nicht verstand und aus diesem Grunde auch nicht behalten habe. Ob es richtig sei, wenn jemand dies oder das mit ihr mache? Das ist alles, was aus nebulösen Erinnerungen folgt, nicht wirklich klar auftaucht. Es machte mich äußerst verlegen, offenbar waren das Dinge, über die man in meiner Familie nicht sprach. Um mich aus der Lage zu befreien oder wenigstens einen Ausweg daraus zu erfinden, bohrte ich die ganze Zeit meinen Fuß in eine Mulde des Rollers, in den Winkel, der das Rollbrett am Lenkbrett befestigte. Sie begriff, dass es keinen Sinn hatte, mich ins Vertrauen zu ziehen, denn ich schwieg beharrlich zu ihren Ausführungen, vor allem, weil ich nicht verstand, wovon sie sprach, aber auch, weil das Gespräch mir höchst unbehaglich und peinlich war. Ich trollte mich mit einer gewissen Erleichterung.
Jahrzehnte später kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht jemanden brauchte, der sie ein Mißbrauchserlebnis anvertrauen wollte.

 "Sind das die Männer, die den Fuchs schießen?" lautete meine Frage angesichts des bewaffneten Aufmarsches, als ich wohl so 4 oder 5 Jahre alt war. Man ließ mich in dem Glauben; man erzählte Kindern damals nicht so viel.
Ich fragte später doch weiter; mein Vater sagte aber, er wolle mir das lieber noch nicht erzählen. Wir einigten uns darauf, dass er das tun würde, wenn ich neun wäre.
Es kam allerdings schon eher dazu.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Erinnerungen einer alten Autistin II

Das Kinderbuch "Klein Pear", Vorsatzpapier
Eleanor Frances Lattimore. Thienemann Stuttgart, 1950
Ich sprach von meinem Tageslauf, bevor ich zur Schule kam. Ich hatte zu tun. Aus der Zeitung erfuhr ich, nachdem ich mit ihrer Hilfe lesen gelernt hatte, von Ereignissen in der ganzen Welt, ein paar Jahre später las ich vom Untergang der Pamir und dem Tod einer großen Zahl junger Kadetten, was mich sehr mitnahm, und von der Einnahme Tibets durch die Chinesen. China war mir durch ein Kinderbuch schon ein Begriff, durch die Geschichte von "Klein Pear".  Ich las "Die Welt", hörte meine tägliche Jazz-Sendung aus dem riesigen Holzkasten mit seidig strukturierter Bespannung und sah das grüne Auge dazu zucken.
Stefan Riepl (Quark48)

Das "magische Auge" -- let it shine
 

Es zuckte besonders heftig bei den dramatischen Bläserfanfaren, die zu den Songs mit Frank Sinatra zu keinem Ende kamen, was ich nicht mochte; meine Lieblinge waren auch die meiner Mutter: Ella Fitzgerald und Louis Armstrong. Ich inhalierte meine täglichen Jazzgaben auch nach der Einschulung. Meine Eltern pflegten einen Nachmittagsschlaf zu halten, bei dem sie höchtstwahrscheinlich nicht immer schliefen. Sie waren jedenfalls immer aufgeräumter Stimmung, wenn sie aufgestanden waren, und lobten mich, dass ich so brav und leise gewesen war, was man auf das Radio zurückführen konnte, dem ich unter dem Wohnzimmertisch lauschte, das war ein dreifüßiger Biedermeiertisch. Seine Platte war arg zerfurcht, meine Mutter behauptete, die Rotarmisten hätten auf der Furnierplatte Brot geschnitten, sie kann es gewusst haben, sie hatte 1945 bei ihnen gearbeitet.

Auf einen der Ausläufer des flachen Fußes legte ich ein dickes Kissen und saß in dieser Laube als zufriedene Zuhörerin des Nordwestdeutschen Rundfunks, wie er damals hieß. Es gab ja auch noch den Kinderfunk, den eine läppische Melodie einleitete, tänzelnde Flöten, die zu schwachsinnigen Comicfiguren gepaßt hätten. Oder es gab den betulichen Schulfunk, "Neues aus Waldhagen" und den "Kleinen Tierfreund". Eine weitere Lieblingsbeschäftigung fand oberhalb des Tisches statt, es war die Lektüre des Wilhelm-Busch-Albums, einer zerfledderten Ausgabe von sicher 60 Jahren Alter, die am Anfang von einem prächtigen Kupferstich mit dem Porträt des Künstlers eingeleitet wurde, dazu verschnörkelte Buchstaben und ein Text in Fraktur, den ich ebenfalls schon vor der Einschulung zu lesen imstande war. Die Fähigkeit zu lesen hatte ich schon mit 4 erworben, was meinen Eltern eigentlich nicht recht war. Da ich aber drängelte, dachte mein Vater, es könne nicht schaden, wenn er mir wenigstens ein paar Buchstaben verriet. Ich schrieb also EVA und besaß damit drei Buchstaben. Ich entdeckte einen davon in einem Schriftzug über der Tankstelle, die sich damals an der Ecke Esplanade/Neuer Jungfernstieg befand. Dieser lautete ESSO und lieferte mir weiter nützlichen Stoff. Das dritte Versatzstück war DIE WELT, und damit hatte ich eine solide Grundausstattung, die mich zu weiteren Besitztümern führte. Mit der Verfügung über diese Buchstaben war ich wenige Monate später auch schon in der Lage, eigene Sinnkomplexte zu synthetisieren, und somit war ich in der Lage, meinen Zeichnungen Sprechblasen zuzuordnen und auszufüllen, was ich als sehr nützliche Erfindung aus den Comics der Hausmeister-Jungs kannte.

Es gab inzwischen auch einen kleinen Bruder. Wie es meiner Mutter in dieser Zeit ging, blendet sich aus meiner Erinnerung aus; weder wußte ich von ihrer Schwangerschaft noch von der Tatsache, dass Kinder von Frauen geboren werden. Plötzlich war da ein kleines Kind, in das ich sofort verliebt war, und ich stopfte eilfertig die karierte Decke um seine Füßchen herum fest. Merkwürdigerweise habe ich eine absolut klare Erinnerung an das blaue Karo, aber keine an sein Gesicht.
Ich war glücklich über die Ankunft des kleinen Bruders, und das waren auch die Eltern. Es hieß, meine Mutter hätte damals wieder zu lachen angefangen. Wie auch immer man das auslegen mag.
So etwa hätte das aussehen sollen,
wenn ich nicht aus der Reihe
getanzt hätte

Ich war ein einsames Kind mit mangelhafter Sozialisation. Mein Umgang waren überwiegend erwachsene Verwandte und Freunde und die meist schon sehr viel älteren Kinder dieser Verwandten. Meine Mutter pflegte Kontakte mit der estnischen Landsmannschaft, die in einem der unteren Räume der Evangelischen Akademie eine Kindertanzgruppe aufbaute, damals könnte ich vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Die Leiterin hieß Pärja Inari und war eine wundervolle Frau, mit der meine Eltern sehr gern Kontakt hatten. Die Idee war, dass ich hier ein wenig Anschluß an andere Kinder finden und auch vielleicht Estnisch lernen könnte. So war ich einmal dabei, als die ersten Schrittchen eines Tanzes gelernt wurden. Sofort stellte sich heraus, dass ich aus der Reihe tanzte, was verwunderlich war, weil ich doch schon Anzeichen einer musikalischen Begabung zeigte und alle Lieder rhythmisch und mit der richtigen Tonhöhe singen konnte. Doch so zu tanzen wie die anderen Kinder gelang mir nicht. Pärja Inari beugte sich über mich und umfasste meine Beinchen und versuchte, sie im Takt zu setzen, aber ich muss mich wohl, ohne es zu wollen, gesperrt haben. Sie seufzte und sagte in freundlichem Ton: "Nun, dann hat das wohl keinen Zweck." Ich war erleichtert, wieder an meine eigene Beschäftigung gehen zu können, und ich habe bis heute nicht die Fähigkeit erlangt, in vorgegebenen Schrittfolgen zu tanzen.