Man würde niemandem erlauben, sich als Atomphysiker auszugeben, der dieses Fach nicht jahrelang studiert und mit einem Abschluss gekrönt hat. Auf dem Gebiet der Spiritualität kann jeder Hans und Franz sich zum Tantriker oder Yoga-Experten erklären.
Im Buddhismus werden solche Inhalte, die sich mit Erleuchtung befassen, nicht auf dem Marktplatz breitgetreten, sondern nur von autorisierten Lehrern und Lehrerinnen gelehrt. Sie haben durch jahrelange Meditation und durch gründliches Studium der Sichtweise und durch persönliche Ermächtigung die Erlaubnis zur Weitergabe der höheren Praktiken.
Im Hindu-Yoga kann sich jeder selbst zum Guru erklären, der spirituelle Erlebnisse hatte. Entsprechend glauben auch die westlichen Yoga- und Tantra-Freunde, sie hätten die Qualifikation, um Kurse und Seminare abzuhalten.
Wer sind die wahren Feinde des Dharma?
Nicht die sind es, die eine Lehre mit Feuer und Schwert bekämpfen, denn Hinduismus und Buddhismus haben die Mogul-Herrscher überlebt. Der Hinduismus ist die beherrschende Religion Indiens geblieben.
Was dem Dharma aber viel mehr schadet, ist die Leichtfertigkeit, mit der kleine Hopsereien, Massage-Workshops und Yoga-Wochenenden schon gleich als Anlass genommen werden, mit Sanskrit-Begriffen um sich zu werfen, die das Ergebnis jahrtausendealter spiritueller Erfahrung sind. So werden sie banalisiert, und beim Hörer entsteht der Glaube, man könne sich diese Dinge einfach so aneignen, könne sie sich verbal übermitteln lassen, käme dadurch der Erleuchtung näher. Das ist, als würde man glauben, ein Sportstudium rein als Studium von Büchern über Sport absolvieren zu können. Vielfach fehlt auch der Glaube, vielfach liegt der Beschäftigung zwar ein Interesse am Wellness-Aspekt zugrunde, aber dieses geht einher mit einem tiefen Misstrauen gegenüber Religion, mit einer krassen Ablehnung der Gestalt des Guru, mit der irrigen Ansicht, man könne sich das alles selber beibringen. Aber zu diesem Ziel kommt man nur durch beharrliche Beschäftigung und Praxis mit Körper, Rede und Geist. Und man muss sich auf diesem Weg auf einen Guru stützen. Und ja, ich benutze diesen Begriff bewusst, denn er beschreibt einen Menschen, der sich gläubig und vertrauensvoll über lange Zeit diesem spirituellen Weg gewidmet hat, bis Ergebnisse eintrafen. Und so jemanden braucht man auf dem spirituellen Pfad.
Pfui, ein Guru!
Die wenigsten haben jemals einen Menschen getroffen, der diesen Weg bis zum Erfolg gegangen ist. Sie können sich das Charisma und die Wirkung eines solchen Menschen nicht vorstellen. Wie auch? Und wer nicht den Glauben hat und das Vertrauen, der kann selbst den Buddha nicht als erleuchtet erkennen, wenn er persönlich vor ihm steht. So ging es dem Koch des Buddha, der sich viele Jahre bei ihm aufhielt und ihn dennoch für einen ganz gewöhnlichen Menschen hielt; so erging es Heinrich Harrer in Tibet, der dem Dalai Lama ganz nah war und dennoch vom Dharma nichts verstand — wenigstens damals — und ihn sogar ein wenig verachtet hat. Seine Hochachtung für den Dalai Lama war somit halber Kram; ich weiß nicht, ob Herr Harrer jemals die Erfahrung nachgeholt hat, den Wert des Dharma zu erkennen. Denn ohne den Dharma hätte der Dalai Lama wohl kaum die charismatische Persönlichkeit entwickelt, für die er verehrt wird.
Viele Aussprüche werden kolportiert und dem Dalai Lama untergeschoben. Nur ein kleiner Teil davon ist authentisch. Und das ist die Gefahr. Nicht so sehr seine Feinde sind das Problem, sondern eher die gut gemeinten Verfälschungen, die von denen kommen, die keine spirituelle Praxis ausüben, sodass sie den Unterschied erkennen könnten.
Warum kümmerst du dich um sowas?
Es fällt mir einfach schwer, zu manchem die Klappe zu halten. Von sprachlichen Schnitzern bis hin zu politischen Debatten. Also sammle ich, was mir so auffällt -- und eine Bemerkung verdient...
Mittwoch, 5. Juli 2017
Samstag, 1. Juli 2017
Das Wechselbalg ist da: Das große SZ
Ein Forumsbeitrag
Nun ist das Unglück ja passiert, Deutschland versucht, sich mit einem großen SZ zu schmücken. Wie man aber an der Schriftgeschichte ablesen kann, ist die Herkunft des ß kein s-z, wie das in der Fraktur und in der Deutschen Schrift (z.B. Sütterlin) der Fall ist. Sondern dieses Zeichen in der Antiqua leitet sich aus einer Verschmelzung zweier "s" ab, eines langen und eines runden, siehe Arrighi, Italien, 16.Jh. Es besteht also gar keine Notwendigkeit, ein Sonderzeichen für eine Versalreihe zu benutzen, das dazu den Typografen vor eine unlösbare Aufgabe stellt, da es ja seine Herkunft aus der Doppel-S-Ligatur niemals wird verleugnen können. Auch wird die Bedeutung des ß als Anzeiger eines langen Vokals weit übertrieben, denn in der Vergangenheit stand es lange Zeit auch hinter kurzen Vokalen -- oder hat jemand "Miiißverständnis", "Kuuuß" oder "Fluuuß" gesagt? Hingegen las man bei GROSS oder GRÜSSE problemlos ein Wort mit langem Vokal.
Die sogenannte Rechtschreibreform hat so viel Unheil angerichtet, dass jetzt erst klar wird: Eine glatte, saubere Lösung wie die schweizerische S-Schreibung, die auch Barrieren im internationalen Informationsfluß abbaut, ist wirklich wünschenswert für Deutschland.
Nun ist das Unglück ja passiert, Deutschland versucht, sich mit einem großen SZ zu schmücken. Wie man aber an der Schriftgeschichte ablesen kann, ist die Herkunft des ß kein s-z, wie das in der Fraktur und in der Deutschen Schrift (z.B. Sütterlin) der Fall ist. Sondern dieses Zeichen in der Antiqua leitet sich aus einer Verschmelzung zweier "s" ab, eines langen und eines runden, siehe Arrighi, Italien, 16.Jh. Es besteht also gar keine Notwendigkeit, ein Sonderzeichen für eine Versalreihe zu benutzen, das dazu den Typografen vor eine unlösbare Aufgabe stellt, da es ja seine Herkunft aus der Doppel-S-Ligatur niemals wird verleugnen können. Auch wird die Bedeutung des ß als Anzeiger eines langen Vokals weit übertrieben, denn in der Vergangenheit stand es lange Zeit auch hinter kurzen Vokalen -- oder hat jemand "Miiißverständnis", "Kuuuß" oder "Fluuuß" gesagt? Hingegen las man bei GROSS oder GRÜSSE problemlos ein Wort mit langem Vokal.
Die sogenannte Rechtschreibreform hat so viel Unheil angerichtet, dass jetzt erst klar wird: Eine glatte, saubere Lösung wie die schweizerische S-Schreibung, die auch Barrieren im internationalen Informationsfluß abbaut, ist wirklich wünschenswert für Deutschland.
Mittwoch, 31. Mai 2017
Du denkst also, die Opfer sind schuld?
Karma und Holocaust
Viele Menschen ärgern sich sehr über die Idee von Karma und weisen darauf hin, dass es unerträglich ist sich vorzustellen, die Opfer zum Beispiel des Holocaust seien "selber schuld" an ihrem Schicksal, denn das sei ja die Aussage von Karma.
Abgesehen davon, dass dies oft ein Argument ist, um die Karmalehre zu widerlegen und ad absurdum zu führen, ist es so einfach nicht, denn so zu denken wäre zynisch.
Wie sollte man es dann betrachten?
Buddhismus, Hinduismus und viele andere geistige Richtungen betrachten die Karmalehre als ein Naturgesetz von der gleichen Grundsätzlichkeit und Unverrückbarkeit wie die Gravitation, ja, noch unverrückbarer. Sie wurde aus dieser Sicht nicht aus manipulativen Gründen erfunden oder geschaffen, wie manche unterstellen.
Karma kann man aber nicht betrachten, ohne zwei andere Bestandteile dieser Philosophien mit einzubeziehen,
1. Die Lehre von der illusionären Natur aller Erscheinungen,
2. Die Notwendigkeit von Mitgefühl.
Die illusionäre Natur ergibt sich — um es unerlaubt simpel auszudrücken — durch die Tatsache, dass wir die Welt einzig durch unsere eigenen Sinne und unser Bewusstsein erfassen können. Und dieses Bewusstsein ist kein Scanner, der die Welt sachlich erfasst, sondern setzt bereits vor der Wahrnehmung die Parameter, unter denen wir die Welt betrachten. Wir sehen also nichts unvoreingenommen, sondern wir sehen es durch unser eigenes Bewusstsein vorsortiert und vorgedeutet. Das ist ein Aspekt, um die Aussage, die als Ansicht über "Leerheit" (Shunjata) gilt, nur vage anzudeuten.
Wenn wir normalen Menschen nicht in der Lage sind, die wahre Natur aller Erscheinungen zu erfassen, einschließlich der wahren Natur von uns selbst, könnten wir auf die Idee kommen, dass es ja keine Rolle spielt, wie wir miteinander umgehen, denn wenn alles Illusion ist, ist es ja egal, weder ich selbst noch die anderen sind wirklich existent.
Wer so argumentiert, vergisst jedoch, dass es Leiden gibt, die als wirklich erfahren werden. Wir selber sind ja in der Lage, das so zu erfahren! Wie könnten wir glauben, unser Handeln dürfe Leiden verursachen, wo wir doch selber leiden und uns wünschen, nicht zu leiden, sondern Freude zu erfahren?
Daraus ergibt sich zwingend, dass das einzig logische Handeln darin besteht, auch die anderen vor Leid zu bewahren und ihnen Freude zu schenken. Denn wenn wir Leid als real existierend erfahren, wird es allen anderen auch so gehen.
Zu dieser Einstellung gehört auch, dass man über die Leiden anderer niemals mit einer anderen Grundeinstellung nachdenkt als Mitgefühl.
Der Gedanke, dass jemand sein Leiden verdient hat, verrät einen großen Mangel an Mitgefühl. Im Gegenteil müssen wir allein schon solche Aussagen vermeiden, weil sie kränkend und beleidigend sind. Die Idee von Karma sollte einzig auf uns selber eine erzieherische Wirkung haben, sie sollte uns zeigen, dass unser eigenes Leiden die Folge ist, dass wir diesen Zusammenhang nicht verstanden haben. Nur über sein eigenes Karma kann man vage etwas aussagen, weil es aus dem Jetzt-Zustand ablesbar ist; und der Nutzen ist einzig, sein eigenes Handeln zum Nutzen der Wesen auszurichten. Weder hat es Sinn, auf eigenes Wohlergehen in der Zukunft zu spekulieren, noch darüber nachzudenken, was die karmischen Ursachen im Leben anderer zu bedeuten haben. Das zu tun bedeutet gravierendes Unverständnis des gesamten Zusammenhangs.
Wir sind Täter und Opfer
Auf die Nachricht vom Leid anderer darf ich nur reagieren, indem ich denke: "Dieser Mensch (oder ein anderes Wesen) hat eine große Last zu tragen. Was kann ich tun, um ihm das zu erleichtern?" Die zweite Frage dürfte dann lauten: "Was kann ich tun, um mein eigenes Handeln so zu entwickeln, dass ich selber von Leiden frei werde?"
Es ist vollkommen irrelevant darüber nachzudenken, "was jemand getan haben mag, um so großes Leid zu erfahren". Wir alle haben in unendlich langen Zeitperioden eine Form von Leben durchlaufen, die uns Karma angehäuft hat, und wir kennen es nicht. Wir können nicht sicher sein, ob nicht auch auf uns Leid wartet, das wir dann ähnlich kommentieren können. Wir wissen nicht, ob Wesen vielleicht seit Milliarden Jahren gutes Karma angehäuft haben, dann aber die Folgen von schlechtem sehr massiv in kurzer Zeit erfahren. Vielleicht stehen diese Wesen in ihrer karmischen Gesamtbilanz weit über uns, aber wir können das nicht erkennen, weil wir immer nur winzige Ausschnitte aus der Geschichte wahrnehmen. "Wenn der Feind mich tötet und dafür viele Weltzeitalter in der Hölle sein wird — bin nicht ich sein Mörder?" fragt Shantideva.
Das Universum ist unser Blinder Fleck
Das bringt uns zu dem Thema "Illusionen". Denn auch unsere Idee einer abgegrenzten Individualität ist aus der Sicht des Buddhismus eine Illusion. Wir sind durch lange Weltzeitalter mit den anderen Wesen so verbunden und verflochten ("Alle Wesen, zahlreich wie Tropfen im Ozean, waren einmal unsere Mütter"), dass die Vorstellung von einem eigenen "Ich" ebenfalls ein Irrtum ist. Wir sind nur eine zeitweilige Ansammlung von Komponenten (Skandha). Unser Tod löst diese Ansammlung wieder auf. Wir können daher auch sagen, es gibt nicht so etwas wie ein exakt abgegrenztes Karma, "mein" Karma oder "dein" Karma. Einzig die Schärfe des Leides, das wir selber erfahren, hat für uns Realitätscharakter. Dennoch ist auch dies letztlich eine Illusion, ein Spiel des eigenen Geistes. Das wird erkennbar, wenn wir vergleichen, wie verschieden die Wesen die gleiche Situation erfahren. Der eine verbringt viele Nächte in lauten, verrauchten, dunklen Räumen, wo man das eigene Wort nicht versteht, und hat Spaß; für einen anderen ist das der Inbegriff der Hölle.
Noch etwas zum Handeln
Es ist wesentlich, wenn wir den Weg gehen wollen, anderen zu helfen und sie zu beschützen und zu erfreuen, dass wir begreifen, was genau dazu hilfreich ist. Viele glauben, sie könnten von außen bestimmen, was für einen anderen gut ist. Wir kennen das von unseren Eltern, die sich da ziemlich sicher sind und uns damit die Jugend verpestet haben. Zum einen spielt es eine große Rolle, was beim Opfer der Wohltat als subjektive Erfahrung herauskommt. Erfüllt die "Hilfe" seinen Wunsch oder nicht? Zweitens zählt das Ergebnis: Verbessert die Tat sein Befinden, auch wenn es etwas ist, was er sich nicht gewünscht hat? Zum Beispiel in der Suchttherapie ist das der Dreh- und Angelpunkt. Es muss also gelegentlich auch etwas getan werden, was sich das Opfer nicht gewünscht hat; wir sind dann im Konflikt, es zu tun und für unangenehme Folgen verantwortlich zu sein oder es zu lassen und den Schaden zu akzeptieren, den das Opfer sich selber damit antut.
Das ist ein Konflikt, den wir nur mit Weisheit lösen können. Denn die ist eine der beiden Säulen, auf denen das Heilsame ruht, die andere ist der Verdienst durch heilsames Tun.
Weisheit — zu erkennen, was das Richtige ist, das man tun kann — ist ein entscheidender Faktor, um für andere Wesen nützlich zu sein. Sie kann uns manchmal dazu bringen, den anderen einfach nur in Ruhe zu lassen, jedoch nie aufzuhören, ihn gedanklich mit guten Wünschen zu begleiten.
Was also sage ich, wenn mich jemand fragt, ob ich glaubte, die Opfer des Holocaust seien selber schuld an ihrem Schicksal? Ich sage, wir alle sind irgendwann Täter und auch Opfer solcher Handlungen gewesen. Darum ist es völlig unsinnig, in dieser Weise darüber nachzudenken, sondern wir sollten einzig Mitgefühl mit den Opfern empfinden und unser eigenes Handeln davon bestimmen lassen, künftig das Richtige zu tun. Es ist unsinnig, an diesem Punkt das Gesetz des Karma widerlegen zu wollen. Wird die Gravitation durch fliegende Objekte widerlegt?
Letztliches Unbehagen
Wenn Kritiker der Karmalehre die Ausgangsproblematik ansprechen, drücken sie damit ein Unbehagen gegenüber der gesamten Philosophie aus. Ihre Kritik fällt möglicherweise auch deshalb drastisch und emotional aus, weil die Karmalehre die Zusammenhänge von Leben und Tod in einer sehr schonungslosen Weise anspricht. Indische Yogis und buddhistische Mönche konfrontieren sich mit dem, was andere gern verdrängen und mit kuscheligen Heilsversprechen umpolstern. Wir denken nicht gern über dergleichen nach. Und schon ventiliert ein Teil der Gesellschaft diese Tabus durch Erscheinungen wie Gothics und Horrorfilme. Dennoch stellen Hinduismus und Buddhismus eine positive Perspektive dar, nämlich die Möglichkeit, durch gute Werke gutes Karma anzuhäufen bzw. — wie der Buddhismus es sieht — durch Verdienst und Weisheit letztendlich die Erkenntnis der Illusionsnatur der Phänomene zu erlangen und dadurch von Leid frei zu werden. Dem, der diese Pointe des Gedankengebäudes nicht kennt, erscheint das Bruchstück "Karmalehre" notwendigerweise bedrohlich und unverständlich, ja empörend.
Viele Menschen ärgern sich sehr über die Idee von Karma und weisen darauf hin, dass es unerträglich ist sich vorzustellen, die Opfer zum Beispiel des Holocaust seien "selber schuld" an ihrem Schicksal, denn das sei ja die Aussage von Karma.
Abgesehen davon, dass dies oft ein Argument ist, um die Karmalehre zu widerlegen und ad absurdum zu führen, ist es so einfach nicht, denn so zu denken wäre zynisch.
Wie sollte man es dann betrachten?
Buddhismus, Hinduismus und viele andere geistige Richtungen betrachten die Karmalehre als ein Naturgesetz von der gleichen Grundsätzlichkeit und Unverrückbarkeit wie die Gravitation, ja, noch unverrückbarer. Sie wurde aus dieser Sicht nicht aus manipulativen Gründen erfunden oder geschaffen, wie manche unterstellen.
Karma kann man aber nicht betrachten, ohne zwei andere Bestandteile dieser Philosophien mit einzubeziehen,
1. Die Lehre von der illusionären Natur aller Erscheinungen,
2. Die Notwendigkeit von Mitgefühl.
Die illusionäre Natur ergibt sich — um es unerlaubt simpel auszudrücken — durch die Tatsache, dass wir die Welt einzig durch unsere eigenen Sinne und unser Bewusstsein erfassen können. Und dieses Bewusstsein ist kein Scanner, der die Welt sachlich erfasst, sondern setzt bereits vor der Wahrnehmung die Parameter, unter denen wir die Welt betrachten. Wir sehen also nichts unvoreingenommen, sondern wir sehen es durch unser eigenes Bewusstsein vorsortiert und vorgedeutet. Das ist ein Aspekt, um die Aussage, die als Ansicht über "Leerheit" (Shunjata) gilt, nur vage anzudeuten.
Wenn wir normalen Menschen nicht in der Lage sind, die wahre Natur aller Erscheinungen zu erfassen, einschließlich der wahren Natur von uns selbst, könnten wir auf die Idee kommen, dass es ja keine Rolle spielt, wie wir miteinander umgehen, denn wenn alles Illusion ist, ist es ja egal, weder ich selbst noch die anderen sind wirklich existent.
Wer so argumentiert, vergisst jedoch, dass es Leiden gibt, die als wirklich erfahren werden. Wir selber sind ja in der Lage, das so zu erfahren! Wie könnten wir glauben, unser Handeln dürfe Leiden verursachen, wo wir doch selber leiden und uns wünschen, nicht zu leiden, sondern Freude zu erfahren?
Daraus ergibt sich zwingend, dass das einzig logische Handeln darin besteht, auch die anderen vor Leid zu bewahren und ihnen Freude zu schenken. Denn wenn wir Leid als real existierend erfahren, wird es allen anderen auch so gehen.
Zu dieser Einstellung gehört auch, dass man über die Leiden anderer niemals mit einer anderen Grundeinstellung nachdenkt als Mitgefühl.
Der Gedanke, dass jemand sein Leiden verdient hat, verrät einen großen Mangel an Mitgefühl. Im Gegenteil müssen wir allein schon solche Aussagen vermeiden, weil sie kränkend und beleidigend sind. Die Idee von Karma sollte einzig auf uns selber eine erzieherische Wirkung haben, sie sollte uns zeigen, dass unser eigenes Leiden die Folge ist, dass wir diesen Zusammenhang nicht verstanden haben. Nur über sein eigenes Karma kann man vage etwas aussagen, weil es aus dem Jetzt-Zustand ablesbar ist; und der Nutzen ist einzig, sein eigenes Handeln zum Nutzen der Wesen auszurichten. Weder hat es Sinn, auf eigenes Wohlergehen in der Zukunft zu spekulieren, noch darüber nachzudenken, was die karmischen Ursachen im Leben anderer zu bedeuten haben. Das zu tun bedeutet gravierendes Unverständnis des gesamten Zusammenhangs.
Wir sind Täter und Opfer
Auf die Nachricht vom Leid anderer darf ich nur reagieren, indem ich denke: "Dieser Mensch (oder ein anderes Wesen) hat eine große Last zu tragen. Was kann ich tun, um ihm das zu erleichtern?" Die zweite Frage dürfte dann lauten: "Was kann ich tun, um mein eigenes Handeln so zu entwickeln, dass ich selber von Leiden frei werde?"
Es ist vollkommen irrelevant darüber nachzudenken, "was jemand getan haben mag, um so großes Leid zu erfahren". Wir alle haben in unendlich langen Zeitperioden eine Form von Leben durchlaufen, die uns Karma angehäuft hat, und wir kennen es nicht. Wir können nicht sicher sein, ob nicht auch auf uns Leid wartet, das wir dann ähnlich kommentieren können. Wir wissen nicht, ob Wesen vielleicht seit Milliarden Jahren gutes Karma angehäuft haben, dann aber die Folgen von schlechtem sehr massiv in kurzer Zeit erfahren. Vielleicht stehen diese Wesen in ihrer karmischen Gesamtbilanz weit über uns, aber wir können das nicht erkennen, weil wir immer nur winzige Ausschnitte aus der Geschichte wahrnehmen. "Wenn der Feind mich tötet und dafür viele Weltzeitalter in der Hölle sein wird — bin nicht ich sein Mörder?" fragt Shantideva.
Das Universum ist unser Blinder Fleck
Das bringt uns zu dem Thema "Illusionen". Denn auch unsere Idee einer abgegrenzten Individualität ist aus der Sicht des Buddhismus eine Illusion. Wir sind durch lange Weltzeitalter mit den anderen Wesen so verbunden und verflochten ("Alle Wesen, zahlreich wie Tropfen im Ozean, waren einmal unsere Mütter"), dass die Vorstellung von einem eigenen "Ich" ebenfalls ein Irrtum ist. Wir sind nur eine zeitweilige Ansammlung von Komponenten (Skandha). Unser Tod löst diese Ansammlung wieder auf. Wir können daher auch sagen, es gibt nicht so etwas wie ein exakt abgegrenztes Karma, "mein" Karma oder "dein" Karma. Einzig die Schärfe des Leides, das wir selber erfahren, hat für uns Realitätscharakter. Dennoch ist auch dies letztlich eine Illusion, ein Spiel des eigenen Geistes. Das wird erkennbar, wenn wir vergleichen, wie verschieden die Wesen die gleiche Situation erfahren. Der eine verbringt viele Nächte in lauten, verrauchten, dunklen Räumen, wo man das eigene Wort nicht versteht, und hat Spaß; für einen anderen ist das der Inbegriff der Hölle.
Noch etwas zum Handeln
Es ist wesentlich, wenn wir den Weg gehen wollen, anderen zu helfen und sie zu beschützen und zu erfreuen, dass wir begreifen, was genau dazu hilfreich ist. Viele glauben, sie könnten von außen bestimmen, was für einen anderen gut ist. Wir kennen das von unseren Eltern, die sich da ziemlich sicher sind und uns damit die Jugend verpestet haben. Zum einen spielt es eine große Rolle, was beim Opfer der Wohltat als subjektive Erfahrung herauskommt. Erfüllt die "Hilfe" seinen Wunsch oder nicht? Zweitens zählt das Ergebnis: Verbessert die Tat sein Befinden, auch wenn es etwas ist, was er sich nicht gewünscht hat? Zum Beispiel in der Suchttherapie ist das der Dreh- und Angelpunkt. Es muss also gelegentlich auch etwas getan werden, was sich das Opfer nicht gewünscht hat; wir sind dann im Konflikt, es zu tun und für unangenehme Folgen verantwortlich zu sein oder es zu lassen und den Schaden zu akzeptieren, den das Opfer sich selber damit antut.
Das ist ein Konflikt, den wir nur mit Weisheit lösen können. Denn die ist eine der beiden Säulen, auf denen das Heilsame ruht, die andere ist der Verdienst durch heilsames Tun.
Weisheit — zu erkennen, was das Richtige ist, das man tun kann — ist ein entscheidender Faktor, um für andere Wesen nützlich zu sein. Sie kann uns manchmal dazu bringen, den anderen einfach nur in Ruhe zu lassen, jedoch nie aufzuhören, ihn gedanklich mit guten Wünschen zu begleiten.
Was also sage ich, wenn mich jemand fragt, ob ich glaubte, die Opfer des Holocaust seien selber schuld an ihrem Schicksal? Ich sage, wir alle sind irgendwann Täter und auch Opfer solcher Handlungen gewesen. Darum ist es völlig unsinnig, in dieser Weise darüber nachzudenken, sondern wir sollten einzig Mitgefühl mit den Opfern empfinden und unser eigenes Handeln davon bestimmen lassen, künftig das Richtige zu tun. Es ist unsinnig, an diesem Punkt das Gesetz des Karma widerlegen zu wollen. Wird die Gravitation durch fliegende Objekte widerlegt?
Letztliches Unbehagen
Wenn Kritiker der Karmalehre die Ausgangsproblematik ansprechen, drücken sie damit ein Unbehagen gegenüber der gesamten Philosophie aus. Ihre Kritik fällt möglicherweise auch deshalb drastisch und emotional aus, weil die Karmalehre die Zusammenhänge von Leben und Tod in einer sehr schonungslosen Weise anspricht. Indische Yogis und buddhistische Mönche konfrontieren sich mit dem, was andere gern verdrängen und mit kuscheligen Heilsversprechen umpolstern. Wir denken nicht gern über dergleichen nach. Und schon ventiliert ein Teil der Gesellschaft diese Tabus durch Erscheinungen wie Gothics und Horrorfilme. Dennoch stellen Hinduismus und Buddhismus eine positive Perspektive dar, nämlich die Möglichkeit, durch gute Werke gutes Karma anzuhäufen bzw. — wie der Buddhismus es sieht — durch Verdienst und Weisheit letztendlich die Erkenntnis der Illusionsnatur der Phänomene zu erlangen und dadurch von Leid frei zu werden. Dem, der diese Pointe des Gedankengebäudes nicht kennt, erscheint das Bruchstück "Karmalehre" notwendigerweise bedrohlich und unverständlich, ja empörend.
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