Blick auf die Innenstadt von Hamburg in den 50er Jahren |
Die Neustadt Hamburgs war in den 50er Jahren ein weniger hart vom Bombenkrieg getroffenes Stadtviertel als die Gegenden Hammberbrook, Borgfelde oder Barmbek, wo unter einem Trümmerfeld nicht einmal der ursprüngliche Straßenverlauf sichtbar gewesen war. Die Neustadt war aus Armut verfallen, sie war ein klassisches Wohnviertel der proletarischen Kriegerwitwen und jüngerer unehelichen Mütter mit ihren Kindern. Dennoch war es kein so dünn bewohntes Cityviertel wie heute, sondern konnte immerhin 44 Mädchen in die erste Klasse der Schule am Bäckerbreitergang schicken. Unsere Lehrerin war -- in unseren Augen -- steinalt, unverheiratet und hieß Fräulein Behrens. Sie war gütig, wir waren noch ziemlich brav. Ich saß etwas gelangweilt bei der Aufführung, die die ein Jahr älteren Kinder für die Neuankömmlinge veranstalteten, ich kann mich an nichts davon erinnern als an Kostüme aus buntem Krepp, es kann mich nicht besonders beeindruckt haben. Ich saß neben einem anderen Mädchen, mit dem ich Kontakt aufzunehmen wünschte, und teilte ihr mit, ich könnte mir schon Zöpfe machen. Ich betrachtete das als reales Gesprächsangebot und verstand nicht, warum sie sich wortlos abwandte; mir kam es vor, ich sei hier unter Gemüse geraten.
Denn so sah mein Tagesablauf bis dahin aus: Wenn meine Eltern noch schliefen, beschäftigte ich mich im Pyjama mit meinen Büchern oder Zeichensachen, bis meine Beine kalt wurden, und irgendwann wurden die Eltern dann wach, und es gab Frühstück. Der Papa ging dann ins Büro, das eine Etage tiefer lag. Meistens konnte ich ohne Unterbrechungen meinen Beschäftigungen mit dem Malkasten, mit Schere und Klebstoff oder meinen Bilderbüchern nachgehen. Eines davon war das Wilhelm-Busch-Album, aus dem ich Fraktur zu lesen lernte, dann hatte ich den dreifingerdicken Packen Impressionisten-Karten, dann war da ein Buch über das Leben Goethes mit vielen Bildern seiner Zeitgenossen und Schauplätze, das ich oft anschaute; außerdem das "Rettelbusch Stilhandbuch", Ausgabe 1952, voll mit Zeichnungen, die antike Möbel bis ins Biedermeier enthielt. Es wog mehrere Kilo und bot Unterhaltung für Stunden.
Die Mama rauchte und legte eine Patience nach der anderen auf der Schreibplatte ihres Sekretärs nah dem Fenster, das auf die klassizistischen Fassaden der Esplanade schaute.
Die Esplanade kurz nach ihrer Neubebauung 1830 |
Die Esplanade heute. Unsere Wohnung lag in dem am weitesten links gelegenen hellen Gebäude im 2. Stock. |
Heute ist nicht mehr viel zu sehen von dem überaus eleganten Charakter, den die Esplanade bis zum Bombenkrieg besessen hat. Eine Allee führte mittig von der Alsterecke bis zu den Parkanlagen, die durch die Entmilitarisierung der einstigen Valckenburgschen Wehrbauten entstanden waren. Dort befindet sich der Stephansplatz mit dem ehemaligen Hauptpostamt. Unsere Wohnung befand sich etwa in der Mitte der Südseite der Esplanade und schaute auf eine weitere Reihe von Fassaden aus der Bauzeit der Straße. Dies war eine der wenigen Straßen, die vom Bombenkrieg weitgehend verschont blieben, und sie hätte wie die Pallemaille ein Schmuckstück des Klassizismus bleiben können, wenn nicht der Kommerz seine Hand nach diesen alsternahen Grundstücken ausgestreckt hätte und British and American Tobacco sich auf einem Grundstück einen Turm erbaut hätte, für den das Wohnhaus von Heinrich Heines Tante fallen musste.
Für meine Mutter war der Wohnort ein wahrgewordener Traum, das Biedermeier die Epoche ihrer Sehnsucht. Es war ein Haus mit hohen Räumen und drei Handbreit messenden Dielenbohlen mit kupferfarbenem Kern und goldenem Splint: Pitchpine, der schönste Fußboden, den ich je gesehen habe. Nach vorn lag ein Wohnzimmer, dessen hohe Fenster die Mama mit weissen Musselingardinen mit kleinen Pompons dekoriert hatte.
Die Möbel waren billig gekaufte, aber echte Biedermeier-Furniermöbel aus der Bauzeit des Hauses. Sie besuchte die Auktionshäuser Schlüter und andere in der Nähe und raffte zusammen, was der Bombenkrieg übriggelassen hatte. Damals ahnten wir nicht, dass solche Schätze oft den Vertriebenen, Verschleppten und Ermordeten entrissen worden waren. Wir hätten weit weniger ruhigen Gewissens damit leben können, wenn wir es gewusst hätten.
Der Blick zur Esplanade heute, von einem Rest der Valckenburgschen Verteidigungsanlage aus gesehen |
Da meine Mutter den Stil der 50er von Herzen verachtete und die Nierentischchen und Cocktailsessel als "Schmulchen Schievelbeiner" bezeichnete, wie der antisemitische Spottname bei Wilhelm Busch lautet, rekonstruierte sie eine heile Welt, die ähnlich der Einrichtung in der alten Heimat war und eine Zeitkapsel außerhalb der laufenden Realität darstellte. Hier sprach man ein baltisches Deutsch, das von eigenen Ausdrücken wimmelte, vermischt mit estnischen und russischen Versatzstücken, ähnlich wie die Deutschtürken heute, die gerade immer die Sprache verwenden, die das besser ausdrückt, was sie sagen wollen.
Hier sitze ich an den Landungsbrücken auf einem Poller. |
Meine Mutter funktionierte. So überspielte sie ihr Trauma. Sie war eine gute Hausfrau, die oft Gäste bewirtete und sich oft bei den Vorbereitungen verletzte, weil sie so unter Stress kam, dass ihr leicht Unfälle passierten. Wir hatten auch öfter Logiergäste, dann war der Onkel meiner Großmutter bei uns, Herbert, der mit seiner frommen Edith in einer winzigen Kate in Nordschleswig wohnte. Merkwürdigerweise kam er einige Male ohne sie, worüber ich nicht nachdachte; vielleicht entfloh er ihr regelmäßig. Früher, so hieß es, sei er öfter zum "Fischen und Jagen" nach Schweden gefahren, über die Beute gab es eine einhellige und nicht jugendfreie Meinung. Seine Abenteuer aus jungen Jahren wurden in der Familie als geheime Verschlussakte gehandelt, was sehr schade ist, denn das hätte einiges Interessante zu diesem Dossier beigesteuert.
Da aber alle Beteiligten inzwischen in neuen Inkarnationen über den Planeten oder einen anderen wandern, muss ich mich nicht mehr zurückhalten.
Ich ahnte von alledem nichts; ich denke mal, dass ich damals von den Realitäten des Lebens auch selber nichts wissen wollte. Die kleine Tochter unseres Hausmeisters, der bald darauf wegen irgendwelcher Unzuverlässigkeiten entlassen und durch den grundsoliden Nachfolger H. ersetzt wurde, wollte mich einmal ins Vertrauen ziehen und lockte mich auf den Dachboden, wohin ich meinen Roller unbedingt mitnehmen wollte. Ich muss wohl etwa 6 Jahre alt gewesen sein. So saßen wir auf den Dielen, und sie fing an, mir etwas zu erzählen, was ich nicht verstand und aus diesem Grunde auch nicht behalten habe. Ob es richtig sei, wenn jemand dies oder das mit ihr mache? Das ist alles, was aus nebulösen Erinnerungen folgt, nicht wirklich klar auftaucht. Es machte mich äußerst verlegen, offenbar waren das Dinge, über die man in meiner Familie nicht sprach. Um mich aus der Lage zu befreien oder wenigstens einen Ausweg daraus zu erfinden, bohrte ich die ganze Zeit meinen Fuß in eine Mulde des Rollers, in den Winkel, der das Rollbrett am Lenkbrett befestigte. Sie begriff, dass es keinen Sinn hatte, mich ins Vertrauen zu ziehen, denn ich schwieg beharrlich zu ihren Ausführungen, vor allem, weil ich nicht verstand, wovon sie sprach, aber auch, weil das Gespräch mir höchst unbehaglich und peinlich war. Ich trollte mich mit einer gewissen Erleichterung.
Jahrzehnte später kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht jemanden brauchte, der sie ein Mißbrauchserlebnis anvertrauen wollte.
"Sind das die Männer, die den Fuchs schießen?" lautete meine Frage angesichts des bewaffneten Aufmarsches, als ich wohl so 4 oder 5 Jahre alt war. Man ließ mich in dem Glauben; man erzählte Kindern damals nicht so viel.
Ich fragte später doch weiter; mein Vater sagte aber, er wolle mir das lieber noch nicht erzählen. Wir einigten uns darauf, dass er das tun würde, wenn ich neun wäre.
Es kam allerdings schon eher dazu.