Warum muss man etwas retten, was so offensichtlich blüht und gedeiht?
"Wohin willst du heute gehen?" fragte Microsoft vor vielen Jahren. Tatsächlich sah das Internet damals aus wie eine weltweite, frei begehbare Sphäre, wenn auch die Navigation darauf beruhte, dass man entweder die Adresse auf anderen Wegen erfuhr, aus Printmedien, durch persönliche Mitteilung oder durch Links auf anderen Seiten, z.B. auf den inzwischen kaum noch bekannten, damals aber mit Mühe und Liebe gepflegten Linklisten. Diese sind durch die modernen Suchmaschinen revolutioniert worden. Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Volltextsuche das Internet gewandelt hat. Können Sie sich noch hineinversetzen, wie es war, ausschließlich in Schlagwort-Katalogen zu suchen, die sich allein auf den Titel beriefen, und dann noch einmal die Inhalte nach den gewünschten Fakten zu durchsuchen?
Und erinnern Sie sich, was für eine ungeheure Erleichterung es war, als Google seinen Betrieb in Deutschland aufnahm?
Das waren goldene Zeiten, denn die Flash-Banner hatten sich noch kaum durchgesetzt, aber damals entstand schon der Trend, die Sites mit Werbung vollzukleistern, wogegen man sich mit Flash-Blockern oder doch mit beharrlichem Ignorieren wehrte. Man klickte Werbung nicht an, basta.
Was aber wären Medien ohne Werbe-Einnahmen? Angeblich würde ja das Internet nicht existieren, wenn es keine Werbung gäbe, obwohl ich ja ca. 30 Eur pro Monat für mein Internet+Telefon abdrücke.
Wie auch immer, die Werbebranche hat die mangelnde Effizienz der Banner erkannt und sich aufs Datensammeln verlegt.
Hätten wir doch nur fleißig die Werbebanner angeklickt! Denn unsere Verweigerung gebar ein weiteres Internet-Monster: Das Datensammeln durch Registrationszwang.
Und jetzt gab es kein Halten mehr. Wenn man irgendwo einen kleinen Kommentar abgeben möchte oder seine Meinung sagen, dann kommt von irgendwo her ein Formular, das mir das Registrieren nahlegt. Man kann mich natürlich nicht zwingen, dann behalte ich meine Meinung eben für mich.
Stellen Sie sich vor, Sie wollen auf der Straße einfach nur mal Ihre Meinung sagen, müssen in diesem Fall aber auch Ihren Ausweis zeigen, sonst hält man Ihnen das Mikrofon gar nicht erst hin.
So ungefähr verhält es sich im Internet. Ob Sie in Facebook etwas beisteuern wollen, ob Sie in Ihrer Tageszeitung online mitdiskutieren wollen oder ein Foto kommentieren möchten -- Sie werden in den meisten Fällen um den Ausweis gebeten. Mein Passwörterbuch enthält inzwischen viermal, fünfmal so viele Adressen wie das der realen Welt. Einfach, weil ich der Typ bin, der sich heute auf dieser, morgen auf jener Websiten umschauen möchte.
Where do you want to go today?
Für die meisten heißt die Antwort mit schöner Regelmäßigkeit Tag für Tag: "auf Facebook". Man hat sein Portal und bewegt sich ausschließlich innerhalb dessen. Das virtuelle Dorf ist für die User eine Heimat geworden, in der sie jeden Tag vertraute Gesichter sehen können, ganz so, wie es früher im Dorf war. Schauten sie dort über den Zaun und fragten nach dem zahnenden Jüngsten und der rheumatischen Oma, so sieht man sich auch heute jeden Tag, wenn auch virtuell. Das Gehirn macht keinen großen Unterschied zwischen Gartenzaun und Webcam, es belohnt beide Kontakte mit einem Wohlgefühl. Unser innerer Neandertaler scheint einen enormen Nutzen aus der Wahrnehmung der immer gleichen Mitmenschen zu ziehen, er schließt daraus auf Beständigkeit und Sicherheit. Sie sind noch da, sie haben mich nicht verlassen.
Dieses Bedürfnis nach Sicherheit konterkariert inzwischen so massiv die Internet-Freiheit, dass ich Sorge habe, wo das enden wird.
Die Welt wurde so groß in den ersten Jahren des Internet, sie wird inzwischen wieder immer kleiner. Die Menschheit ist dabei, ihre Chance zu vertun; einen großen Teil der Schuld daran tragen die Missbraucher, die gierigen Hacker und Programmierer von Viren, die Spammer, Spanner und Fakes. Es ist kein Wunder, dass virtuelle Ghettos mit Mauer, Zaun und Überwachungskamera entstanden sind, die so versuchen, kriminelles Gelichter fernzuhalten.
Aber welchen Preis zahlen wir dafür? Wehe uns, wenn das kriminelle Gelichter in die Überwachungszentrale gelangt und in aller Ruhe die Kameras und Mikrofone übernimmt. Wie das Jahr 1933 beweist, kann das sogar ganz legal die Macht ergreifen. Auch heute unterliegen zu viele Menschen dem fatalen Irrtum, dass alles, was legal ist, auch moralisch gerechtfertigt und zum Wohl der Gemeinschaft sei. Und was mit ACTA passieren soll, ist noch weit schlimmer. Unter dem Vorwand, die Einkünfte der Künstler zu schützen, versuchen undurchsichtige Kräfte, die Freiheit im Internet bis zur Unkenntlichkeit zu beschneiden.
Es geht um die Milliarden, die die Musik-Anbieter angeblich durch illegale Downloads verlieren. Doch das ist eine Milchmädchen-Rechnung.
Niemand würde alle die Songs, die er illegal heruntergeladen hat, kaufen, wenn das illegale Herunterladen unterbunden würde. Sondern er würde schlicht darauf verzichten! Die großartigen Gewinne, die sich die Musikverlage ausrechnen, sind nichts als eine Chimäre.
1 € für einen Song ist definitiv zu viel für einen Download! Es mag vernünftig sein, eine gebrannte, verpackte, mit einem gedruckten Titelbild geschmückte und an die Läden ausgelieferte CD mit 1 € pro Song zu bewerten. Aber ein Download -- welchen Selbstkostenpreis hat ein herunterladbarer Musik-File? Und welchen Anteil bekommt der Künstler?
Nein, hier soll mühelos verdient werden. Für dieses hohe Ziel nimmt man gern in kauf, dass die Freiheit des Surfens weiter eingeschränkt wird. Und man hat versucht, das in vertraulichen Gremien durchzusetzen. Aber die Hunde haben angeschlagen! Zum Teil verdanken wir es der unvergleichlichen Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dass der Anschlag auf die Freiheit der Information misslungen ist. Wären alle in ihrer Partei so drauf wie sie, ich würde sie glatt wählen.
Das Internet gehört unter demokratische Kontrolle, und diese Kontrolle ist dabei, aufgeweicht zu werden. Seien wir wachsam und erinneren wir uns:
Wir sind das Internet.
Wir haben die Macht des Konsumenten. Where do you want to go tomorrow? |